Der Seehund: Werbeträger und Opfer des Massentourismus

Seehunde und Krabbenkutter, Borkum Plate – Foto C): Eilert Voß

Der Seehund ist der Sympathieträger des Wattenmeeres, heutzutage jedenfalls. Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde er bejagt, als Konkurrent der Fischer. Der „Europäische Seehund“ (Phoca vitulina), wie er korrekt heißt, hat sich in den letzten Jahrzehnten trotz zwischenzeitlicher Bestandseinbrüche durch einen staupeänhlichen Virus prächtig vermehrt – durch die Einstellung der Jagd. Probleme machen diesen Meeressäugern der immer noch wachsende Massentourismus, der bereits im Juni mit dem Beginn der Sommerferien gewaltig Fahrt aufnimmt. Der Tourismus boomt ausgerechnet zur Wurf- und Säugezeit der Seehunde. Wattwanderer, tieffliegende Hubschrauber, an Wurfplätzen anlandende Sportbootfahrer oder Surfer stören an den Liegeplätzen und können so das Muttertier vom Jungtier trennen. Unbedachte Touristen hätscheln vermeintlich verlassene Junghunde, sodass sich das Muttertier nicht mehr an den verlassenen Junghund und laut klagenden „Heuler“ herantraut.

Fahrt zu den Seehundbänken, Norderney, Juni 2019 – Foto C): Eilert Voß

Die landen dann oft in den Seehundaufzuchtstationen in Friedrichskoog in Schleswig-Holstein, in Norden-Norddeich in Niedersachsen, in Pieterburen in den Niederlanden und seit wenigen Jahren auch in Termunterzjil, ebenfalls in den Niederlanden. Der Seehund ist heute ein fester Bestandteil der Wattenmeervermarktung geworden. Kommerzielle Schiffsführer bieten „Safaris“ zu den Seehundbänken an. Wenn diese Ausflugsfahrten mit dem Schiff ruhig und in ausreichendem Abstand durchgeführt werden, stört das die ruhenden Tiere auf den Sandbänken in der Regel nicht. Ignorante Sportbootfahrer, mit oder ohne Haushund, die Sandbänke anlaufen, räumen dagegen immer noch Seehundebänke ab oder trennen das Muttertier vom Jungtier, das sich dann vielleicht in einer Seehundaufzuchtstation wiederfindet.

Sportbootverker auf dem Prikkenweg Norderney-Baltrum. Foto (C): Eilert Voß

Dollart: rasendes Motorboot vertreibt Seehunde vom Liegeplatz (Vordergrund rechts) – Foto (C): Eilert Voß

Bei den Wattenmeer-Freizeitkapitänen geht der Trend zu immer mehr PS-Leistung ihrer Motorboote, die dann auch auf den Prikkenwegen oder in den Prielen ausgefahren werden. Nur sind diese tieferen Stellen im Watt auch der Lebensraum von Seehunden. Niemand weiß, wie viele Junghunde durch die schnellen Boote mit ihrem gewaltigen Schwell, den sie verursachen, von den Muttertieren getrennt werden.

Junger Seehund im Borkum-Fahrwasser, Foto (C): Eilert Voß

Natürliche Ursachen wie starke Stürme können auch zur Trennung von Muttertier und Junghund führen. Kranke Seehunde, z.B. mit Schadstoffen oder Parasiten wie Lungenwürmern belastet, gelangen auch in Auffangstationen, statt sie natürlich als Wildtier verenden zu lassen oder sie tierschutzgerecht zu töten. In Schleswig-Holstein wurden in den letzten Jahren viele krank oder verletzt aufgefundene Seehunde erschossen. Das führte prompt zu Online-Petitionen gegen die Tötungen. Dänemark unterhält keine Aufzuchtstationen. Im Sommer 2019 wurden mehr als 160 verwaiste Junghunde allein in die Seehundaufzuchtstation Norden-Norddeich eingeliefert, ein Rekord. Woher kommt das hohe Heuleraufkommen? In Pieterburen wurden in der Vergangenheit Seehunde zur Auslastung der Station gar durch Kidnapping von Tieren ausgelastet (Armin Maywald : „Die Welt der Seehunde – Ein Porträt zwischen Faszination und bedrohter Natur“, Nov. 2002, Edition Ostfriesland Magazin, S.114 und S.120). In Termunterzjil in den Niederlanden werden Seehunde in engen Gehegen zur Schau gestellt, auf einem Campingplatz, auf dem sich seit wenigen Jahren eine neue kleine Auffangstation etabliert hat, offensichtlich als werbender Anziehungspunkt für Camper.

Campingplatz mit Seehundhinweis – Foto (C): Eilert Voß

Seehundstation auf dem Campingplatz in Termunterzjil/NL, Juli 2019 – Foto (C): Eilert Voß

Campingplatz Termunterzjil/NL, 14. Juli 2019: Ist diese Zurschaustellung etwa artgerecht? – Foto (C): Eilert Voß

Junger Seehund, zur Schau gestellt auf einem Campinglatz in Termunterzjil/NL, Juli 2019 – Foto (C): Eilert Voß

Aber in den Niederlanden wurden auch Überwachungskameras in der Dollart-Bucht (Punt van Reide) an Seehundliegeplätzen installiert, auch um naturschutzwidriges Verhalten von Besuchern zu erfassen.

Punt van Reide, Dollart/NL: Überwachungskameras zum Schutz der Liegeplätze, Aug. 2019 – Foto (C): Eilert Voß

Im niedersächsischen Wattenmeernationalpark -3.500qkm groß- werden die 11 hauptamtlichen Ranger, die über keine polizeilichen Befugnisse und Boote verfügen, kaum „nachhaltig“ gegen Verstöße bei Störungen der Seehunde einschreiten können.

Norderney, Osten, Touristen am Schiffswrack, Absperrungen für Seehunde. Wenn man sich an die Absperrungen hält und die mitgeführten Hunde unter Kontrolle hat, bleiben die Seehunde liegen. – Foto (C): Eilert Voß

Zur Populationserhaltung bedarf es keiner Seehundaufzuchtstation. Wissenschaftler kritisierten in der Vergangenheit, dass sich vom Menschen in Aufzuchtstationen aufgezogene Seehunde nach der Auswilderung nicht artgerecht verhalten oder gar Krankheiten in gesunde wilde Populationen einschleppen könnten.

Möwe auf Seehundkadaver, Juister Balje, im Hintergrund die Insel Memmert – Foto (C): Eilert Voß

Natürlich verendeter junger Seehund, Insel Memmert 2002. Dahinter der Autor dieses Artikels, Manfred Knake. Die Spuren um den Kopf des Tieres stammen von Möwen, die begonnen haben, am Kadaver zu fressen. – Foto C): Reiner Schopf

Der niederländische Robbenforscher Peter Reijnders hat historische Daten ausgewertet und ermittelte für die Nordsee bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts einen Bestand von ca. 39.000 Tieren. Dann begann der Vernichtungsfeldzug gegen diese Meeressäuger. Er stellte fest, dass diese Zahl unter den heutigen Bedingungen mit intensiver Fischerei, starkem Schiffsverkehr und der Belastung durch den Tourismus, also Störungen an den Nahrungs- und Ruheplätzen, heute nicht wieder erreicht werden können.

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