Wattenrat

Ost-Friesland

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Startseite > Aktuelles > Artikel Nr. 201 (Januar 2007)

"Kyrill", die gefühlte Katastrophe

Unorthodoxe Vorschläge zum Küstenschutz, das mediale Spiel mit der Katastrophen-Angst, aber: Die Sturmhäufigkeit hat gar nicht zugenommen

"Gott schuf das Meer und die Friesen die Küste" heißt ein vielzitierter, wenn auch etwas anmaßender Spruch. Zweifellos sind in den letzten Jahrhunderten gewaltige Kulturleistungen zur Landgewinnung durch Eindeichung oder in jüngerer Zeit durch Befestigungen der touristisch genutzten Inseln erbracht worden, mit Folgen. Die Inseln, die ja eigentlich nicht von Westen nach Osten wandern (dann wären sie längst abgewandert), sondern durch Sandverlagerungen pendeln und so, wenn man sie ließe, ständig ihre Gestalt änderten, werden heute mit gewaltigen öffentlichen Finanzmitteln fixiert, also betoniert oder mit Deichen vorm "Wandern" gesichert. Hier wurden erhebliche Infrakstruktur- und Immobilienwerte geschaffen, die es zu sichern gilt. Aber die gewaltige Dynamik von Wind und Wellen bleibt und nagt auch an den menschengemachten Sicherungssystemen.

Sand in Bewegung: ehemals geschlossene Dünenkette (Ostteil Norderney)

Nach jeder schweren Sturmflut müssen Badestrände kostenaufwändig wieder aufgespült und Dünen gesichert werden, zur Inselsicherung und für den Tourismus, eigentlich ein Fass ohne Boden für alle Steuerzahler und irgendwann nicht mehr finanzierbar. Der Geologe das Wilhelmshavener Senckenberg-Instituts Burghard Flemming machte einen ungewöhnlichen Vorschlag: Lasst den Inseln ihre Dynamik und passt die Infrastuktur an die wechselnde Gestalt der Inseln an. Nur gut, dass dieser Vorschlag nicht von Naturschützern kam, sie wären über uns hergefallen...

Und wer nun gleich meint, die Stürme in der Deutschen Bucht hätten in den letzten Jahren zugenommen und die Extremereignisse durch Sturmfluten würden sich häufen, wie man nach "Kyrill" oft lesen konnte, sollte gelassen die Veröffentlichung des Deutschen Wetterdienstes ansehen: "Die Entwicklung der Sturmhäufigkeit in der Deutschen Bucht zwischen 1879 und 2000" (pdf-Datei, ca. 128 KB).

Nüchtern wird hier dargestellt, dass es keinen Trend zu stärkeren Stürmen gibt, im Gegenteil: "Die letzten fünf Jahre unserer Reihe des geostrophischen Windes in der Deutschen Bucht gehören zu den windschwächsten Jahren des Jahrhunderts"[1995-2000]."

Ob das Szenerario des Wissenschaftsrats der Bundesregierung eintrifft, der Meeresspiegel an der Küste werde "um 83 bis 170 Zentimeter in 100 Jahren" steigen, ist eine zunächst akademische Frage verschiedener Forscher mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen und keine gesicherte Prognose. Derzeit geht der Küstenschutz von einem säkularen Anstieg (lat. saeculum, Jahrhundert, Anstieg in 100 Jahren) von ca. 2,5mm pro Jahr als Bemessungsgrundlage aus, das entspräche im Jahrhundert 25cm. Seit 100 Jahren liefert der Pegel bei Norderney Daten, es sind aber, entgegen den Katastrophenmeldungen, keine Veränderungen festzustellen.

Wir zitieren aus den Zeitungen:

Anzeiger für Harlingerland, Wittmund, online, 27. Jan. 2007:

Die Orte sollten mit den Inseln wandern?

Senckenberg-Geologe Burghard Flemming plädiert für modifizierten Küstenschutz auf den Ostfriesischen Inseln

Ostfriesland/Wilhelmshaven "In einem solch schlechten Zustand habe ich unseren Strand lange nicht mehr gesehen", klagte Hans Rass nach den letzten Stürmen. Ein Anblick, an den sich der Vize-Chef der Staatsbad Norderney Gesellschaft mittelfristig wohl wird gewöhnen müssen.

"In Norderney liegt der Ort dort, wo bei natürlicher Entwicklung eigentlich heute das Seegatt wäre", erklärt der Geologe Burghard Flemming. Der ausgewiesene Experte für Sedimentverschiebungen in Küstengewässern leitet das Forschungsinstitut Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven. Schon lange plädiert er für ein Umdenken im Küstenschutz an der Nordsee.

Die Küsteningenieure seien erzogen worden, die bestehende Küstenlinie um jeden Preis zu halten. "Leider hat noch keine deutsche Behörde uns Wissenschaftler zu dieser Thematik befragt". Auch Niedersachsens Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) blies in dieser Woche wieder in dasselbe Horn, als er Landeshilfen für die Inselgemeinden ankündigte und die Bedeutung der Inseln für den Küstenschutz hervorhob. "Die Inseln werden auch ohne Aufschüttungen nicht verschwinden, sondern nur wandern", sagt Flemming dazu. Mit Blick auf den blanken Hans vor dem Institutsfenster, fürchtet er, dass erst Gravierendes passieren müsse, bevor neue Wege durchsetzbar werden. Für Norderney heiße das: "Wenn man am bestehenden Ort festhalten will, wird man irgendwann einen Betonring darum legen müssen. Dann steht der Ort alleine auf einem Betonsockel und die Insel ist darunter weggewandert."

Die Ostfriesischen Inseln wandern natürlich in Südost-Richtung. Was Überflutungen an den seeseitigen Stränden abbrechen, spülen sie landwärts wieder an. Dieser Prozess verstärkt sich durch den erhöhten Meeresspiegelanstieg von derzeit etwa drei Millimetern im Jahr. "An den Pegelständen können wir das durch die natürlichen Schwankungen noch nicht nachweisen", sagt Flemming, "aber die Satellitenbilder der letzten zehn Jahre deuten eindeutig darauf hin."

Der vom Wissenschaftsrat der Bundesregierung prognostizierte Anstieg des Meeres um 83 bis 170 Zentimeter in 100 Jahren werde die Inseln massiv betreffen. "Alle Strände werden dann erodieren. Es wird zu der Situation kommen, dass wir mit unseren technischen Möglichkeiten am Ende sind." Während man in den Niederlanden mit enormen Kosten und unter Missachtung von Umwelt-Gesichtspunkten Sand von entfernt vor der Küste liegenden Sandbänken zur Aufschüttung der Strände nutzen könne, werde in Ostfriesland Material aus den Becken zwischen den Inseln entnommen, damit dem Gesamthaushalt aber nichts zugefügt. Und die nötige Erhöhung des Rückseitenwatts sei damit nicht zu bewältigen. "Wir haben ein riesiges Sedimentproblem", sagt Flemming und rechnet vor: Bei einem Anstieg des Meeres um einen Meter müssten allein im Rückseitenwatt der Insel Spiekeroog 500 Millionen Kubikmeter Sediment eingebracht werden, um mitzuhalten. Ansonsten wären höhere Fluten, schnellere Fließgeschwindigkeiten und damit noch mehr Sedimentabtrag die Folge. "Dann kommen wir in die Lage, in der Sylt schon heute ist." Dort sei der Strandsockel so steil, dass das Meer mit ungebremster Kraft auf die Küste treffe und umso mehr Sand fortspüle.

"Es ist immer besser, mit dem Meer zu leben, als gegen es zu arbeiten", rät Flemming. Deshalb sollten die Orte mit den Inseln wandern, wo immer es möglich sei. Es sei sinnlos, wie derzeit auf Wangerooge mit der neuen Strandpromenade, Werte zu schaffen, die letztlich nicht zu halten seien. Denkbar wäre für Flemming, Gelder anstatt für den Küstenschutz in einen Hilfsfonds einzuzahlen, um materielle Schäden auszugleichen. Auch könnte man einen "mitwandernden"? Eigentumsschutz für die Immobilien vereinbaren. Alle 50 bis 100 Jahre würden dann eine oder zwei Häuserreihen seewärts aufgegeben und landwärts wieder aufgebaut, um eine ausreichende Pufferzone zu erhalten. Auch wenn für die Küste selbst vorerst keine Gefahr bestehe, wirke sich der Anstieg des Meeresspiegels in den Watten und an den Deichen massiv aus. Deicherhöhungen würden nötig werden, aber nicht nur das. "Wir erleben jetzt schon, dass trotz der künstlichen Lahnungen im Rückseitenwatt der Inseln sich weniger Sediment ablagert", sagt Flemming. Damit wird der bereits jetzt geringe Anteil der feinkörnigen Schlickwatten und Salzwiesen weiter abnehmen. Brutgebiete vieler Vögel würden verschwinden. "Das Ökosystem wird sich zugunsten der sandigen Komponenten verschieben."

Um die Auswirkungen zu mindern, verfolgt Flemming eine ehrgeizige Idee. Das Watt könnte sich gewissermaßen hinter den Deich auf nur extensiv genutzte Flächen zurückziehen. "Gezielt könnte man an einigen Stellen den Deich mit Sperrwerken öffnen und dahinter kontrollierte Rückstaubecken schaffen." Dort könnten sich Salzwiesen und Schlickwatten als Brutplätze für Vögel entwickeln. Außerdem könnte hier Klei (Ton) entstehen, der für den Deichbau dringend gebraucht wird. "In einigen Bereichen könnte man Aquakulturen wie Miesmuschelzucht einfacher einrichten als draußen im Meer." Auch touristische Nutzungen wären denkbar wie künstliche Sandstrände, die mit Wellengeneratoren unabhängig von der Tide draußen den ganzen Tag Badefreuden böten. "Damit ließen sich die unbestritten sehr hohen Kosten vielleicht sogar refinanzieren.? [...]

F.A.Z., 15.12.2006, Nr. 292 / Seite 42:

Die Welt soll in Fluten versinken

Prognose hin und her: Steigt der Meeresspiegel noch stärker?

JOACHIM MÜLLER-JUNG

Die Woche hat angefangen mit einer schockierenden Nachricht aus der Klimaforschung (im Sommer 2040 soll die Arktis eisfrei sein), und sie klingt damit aus: "Der Meeresspiegel könnte in den kommenden Jahrzehnten schneller steigen als bislang erwartet", läßt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung wissen, und er verweist auf seine jüngste Veröffentlichung, deren Quelle eigentlich wenig Zweifel an der Seriosität dieser Aussage zulassen sollte: Im "Science-Express", der schnellen Online-Ausgabe der Zeitschrift "Science" berichtet er heute über seine neueste Kalkulation, wonach nicht mehr mit einem Meeresanstieg von 9 bis 88 Zentimetern bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu rechnen sei, sondern mit 50 bis 140 Zentimetern.

Diesen Befund könnte man einreihen in eine Reihe ähnlicher Berichte, in denen mal von Zentimetern bis hin zu mehr als zehn Metern Meeresanstieg die Rede ist. Rahmstorfs Aufsatz aber ist durchaus etwas Besonderes. Denn zum erstenmal und noch nie so deutlich hat einer der Klimaforscher ausgeführt (und ausgesprochen), was als Ursünde in der Zunft gilt: das offene Infragestellen der physikalischen Computermodelle. "Die Tatsache, daß wir mit unterschiedlichen Methoden so unterschiedliche Abschätzungen erhalten, macht deutlich, wie unsicher unsere gegenwärtigen Meeresspiegelvorhersagen noch sind", schreibt Rahmstorf. Und er gibt zu bedenken, daß die Modelle bisher "nicht in der Lage sind, den Meeresanstieg der vergangenen Jahrzehnte richtig zu reproduzieren". [...]

Die Welt, 20.01.2007:

Orkan "Kyrill"

Deutschland und die gefühlte Katastrophe

Der Orkan "Kyrill" hat eine Schneise der Verwüstung durch Europa geschlagen und mindestens 43 Menschen in den Tod gerissen. Bei einem der schwersten Stürme der vergangenen 20 Jahre waren allein in Deutschland elf Todesopfer zu beklagen. Aber war der Sturm wirklich schlimmer als andere vor ihm?
Von Ulli Kulke

[...]

Berlin - Es gab Tote, Verletzte und gewaltigen Sachschaden. "Kyrill" war ein katastrophaler Sturm. Aber bei Weitem nicht der schlimmste. Und die Stürme in unserem Land wurden in den letzten Jahrzehnten keinesfalls "immer häufiger, immer stärker", auch wenn eine Nachrichtenagentur ihre Auflistung so überschrieb, weil viele es so lesen wollen.

Die Aufstellung selbst ergab nämlich genau das Gegenteil. Allein in den Siebzigerjahren wurde Deutschland von vier Winterstürmen verheert, die jeweils zwischen 27 und 50 Todesopfer forderten, zum Teil mit Windgeschwindigkeiten weit über denen vom Donnerstag. Von der Sturmflut im Februar 1962 oder Orkanen früherer Jahrzehnte ganz zu schweigen.

Eines allerdings ist neu: die gefühlte Katastrophe jenseits der realen. Anders als früher funktioniert das Warnsystem, können sich Katastrophenschutz und Medien Tage vorher auf die Katastrophe einstellen. Wie auch die Menschen selbst, die Katastrophenkonsumenten, die Debattierrunden.

So war man am Donnerstagabend auf beiden Seiten des Fernsehschirms pünktlich und bestens vorbereitet: Sondersendungen am laufenden Band. In denen allerdings kaum Katastrophenbilder zu sehen waren, auch weil eben doch weniger geschehen war als erwartet. Stattdessen kaprizierte man sich auf leere Straßen, auf Schutzmaßnahmen: Es war viel die Rede davon, dass die Bahn flächendeckend stoppte, Behörden ihre Beamten mittags nach Hause schickten, Schulen sturmfrei gaben [...]

Ostfriesen-Zeitung 12.01.2005 (S. 1):

Anstieg des Meeresspiegels: Landesamt bleibt gelassen

KLIMA - Ostfriesische Küstenschutz-Behörde sieht keine Anzeichen für beschleunigte Zunahme

Der Pegel bei Norderney liefert seit 100 Jahren Daten. Dramatische oder auch nur auffällige Entwicklungen sind daraus noch nicht abzuleiten.

VON HEINER SCHRÖDER

NORDEN - Es gibt keinen beschleunigten Anstieg des Meeresspiegels. "Seit 100 Jahren liefert unser Pegel bei Norderney Daten. Es sind aber keine Veränderungen festzustellen", sagte gestern Olaf Müller, Geschäftsbereichsleiter des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) mit Sitz in Norden.

[...]

Dieses Mittelmaß liegt bei 25 Zentimetern. Die Küstenschützer im Lande gehen davon aus, dass der Meeresspiegel um diese Größe im Jahrhundert steigt. Das tun sie schon seit Jahrzehnten so und legen nach dieser Maßgabe die Höhe und Stärke von Deichen, Sperrwerken oder Schleusen fest. Die Annahme wird anhand der Pegel - unter anderem bei Norderney ständig überprüft. Bislang ohne Aufsehen erregendes oder gar nur bemerkenswertes Ergebnis.

 
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