Wattenrat

Ost-Friesland

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Startseite > Aktuelles > Artikel Nr. 71 (16.04.2004)

Umweltminister Sander will Schutzgebiete für den Besucherverkehr öffnen

"Serengeti-Effekt" in Niedersachsen: Umweltminister Sander will zusätzliche Wege in Naturschutzgebieten für Tourismus öffnen

Der Naturschutz im Lande befindet sich weiter im freien Fall. Neueste Horrormeldung aus dem Umwelt(verhinderungs)ministerium in Niedersachsen: Man hat einen "Serengeti-Effekt" im Lande ausgemacht, wildlebende Tiere lassen sich angeblich vom Menschen weniger stören als angenommen. Alle Schutzgebietsverordnungen sollen auf den "Prüfstand", für "Naturtouristen". Dass einzelne Arten in Schutzgebieten weniger Fluchtdistanz zeigen, stimmt sogar bedingt, aber eben nur für einzelne Arten. Örtlich haben sie auch keine andere Wahl, um noch in Ruhe satt zu werden, gerade in kalten Wintern kann man beobachten, dass z.B. Gänse ihr Fluchtdistanzen beim Äsen verringern. Aber sie werden damit nicht zu Streicheltieren der Spaß-Gesellschaft, die nicht wegzudiskutierenden Fluchtdistanzen vertragen sich nicht mit Wegeöffnungen.

Jetzt wir eine generelle Öffnung von Naturschutzgebieten und Nationalparks im Lande erwogen, das Ministerium macht aus beobachteten Einzelfällen den Generalangriff auf die bisherige Wegeführung und damit auf den Erhaltungszustand vieler Schutzgebiete, mit Hilfe der Kommunen. Und die leben vielerorts vom Fremdenverkehr und werden sich kaum sperren. Das Niedersächsische Landesamt für Ökologie (NLÖ) als Fachbehörde für den Naturschutz wird gar nicht erst gefragt, die werden ohnehin aufgelöst. Der Trend ist klar. Auch die Bezirksregierungen im Lande als Obere Naturschutzbehörden werden aufgelöst, Naturschutz (oder was man dafür hält) wird von oben ohne störende Fachbehörden "nach unten" mit dem Kommunen durchgesetzt, eine "schlanke" Verwaltung eben, aber bar aller Sachkompetenz und ausschließlich öffentlichkeitsorientiert, je nach Popularitätseffekt.

Vor Einrichtung des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer 1986 z.B. wurden die Wegeführung in jahrelangen zähen Verhandlungen, anfangs mit den Naturschutzverbänden, festgelegt. Die vorherige SPD-Landeregierung kippte alle Vereinbarungen und änderte 2001 das Nationalparkgesetz im Sinne der Tourismusindustrie, ganze Flächen wurden aus dem Nationalpark "entlassen" und neue Wege eingeführt, alles ohne die Verbände, die ohnehin sehr stumm geworden sind. Die Verbände sind nicht ganz unbeteiligt an der Entwicklung: BUND und NABU haben jahrelang den Naturtourismus forciert, dieser Ball wird jetzt dankbar vom "liberalen" Umweltminister Sander und seinen ortsfernen ministeriellen Sesselpupern aufgenommen, für noch mehr Tourismus. Der Wattenrat hat deswegen vor zwei Jahren Beschwerde bei der EU-Kommission wegen Verletzung der FFH- und Vogelschutzrichtlinie eingelegt, die Beschwerde wurde angenommen und wird geprüft. Von den anerkannten Verbänden kam nichts.

Dazu eine Zahl: an der ostfriesischen Küste werden jährlich ca. 13 Millionen Fremdenverkehrsübernachtungen offiziell erfasst (aber nur Häuser ab 9 Betten, die Zahl ist also noch wesentlich höher!); dem stehen sieben (!) hauptamtliche Nationalparkbetreuer auf den Inseln ohne Befugnisse und Fahrzeuge gegenüber, plus 15 ständig wechselnde Zivildienstleistende. Was hier abgeht, hat mit "Nationalpark" (= EU-Vogelschutzgebiet) und Naturschutz schon jetzt nichts mehr zu tun. Es müssten für den Schutz der Tiere eigentlich mehr Wege gesperrt werden, mehr Flächen ausgewiesen und die Betreuung forciert werden, das wäre der richtige Weg im fachlich verstandenen Naturschutz.

Am Beispiel des ohnehin sehr schmalen NSG und BSG "Petkumer Deichvorland" an der Ems östlich von Emden ist bereits deutlich ablesbar, welche Folgen Wegezulassung haben: Mit öffentlicher Kampagnenhilfe seiner liberalen Spießgesellen Bolinius (FDP-Emden) und Riese (MdL,FDP) wurde ein ohne vorgeschriebene Verträglichkeitsprüfung erbauter Küstenschutz-Betonweg im NSG für den Besucherverkehr örtlich und zeitlich nach dem Ministerbesuch begrenzt freigegeben und nach Bau des Betonweges vom Gutachterbüro Schmal und Ratzbor die Erheblichkeit des Eingriffes auch brav "verträglich" im Auftrag der Stadt Emden schönbegutachtet, obwohl der angrenzende Deich frei begehbar ist.

Nur: schon lange vor der Freigabe während der öffentlichen FDP-Kampagne in der Emder-Zeitung wurde der Weg gut angenommen, von Radlern, Fußgängern, Reitern, Hunden und Kraftfahrzeugen. Zäune und Absperrungen wurden mutwillig beschädigt oder entfernt, NSG-Schilder übermalt. Einer unserer Mitglieder hat eine sehr detaillierte Störerfassung angefertigt und Bilder gemacht (siehe Link "Petkumer Deichvorland" im oberen Absatz). Fazit: Das Gebiet ist dadurch bereits jetzt für Limikolen und Gänse (ehem. Tageshöchstzahlen Nonnengänse: 16.000) stark entwertet worden. Nach der EU-Vogelschutzrichtlinie ist das nicht zulässig. Aber es schert weder den Umweltminister noch die Menschen, in denen der Minister erklärtermaßen "das Gute sieht", die aber überwiegend einen Feldspatz nicht von einem Hausspatz unterscheiden können, geschweige denn Einsichten in die Raumnutzung von wildlebenden Tieren haben. Die 13 anerkannten Naturschutzverbände in Niedersachsen ignorieren auch diese Entwicklung, von ihnen kam bisher keine öffentliche Stellungnahme.

Die von Sander zitierten 22 Millionen Euro Naturschutzetat für Niedersachsen sind zudem peanuts, statistsich kaum darstellbar. Damit kann sich jeder Einwohner mal gerade in Glas Mineralwasser kaufen. Und damit wird nicht das Recht erworben, das zu vertreiben, was eigentlich geschützt werden soll.

Man sollte dem Umweltminister nahelegen, wegen erwiesener Inkompetenz und Aktivitäts-Inkontinenz das Amt niederzulegen. Vielleicht sollte er Ranger im Serengeti-Nationalpark werden, um Einsichten zu gewinnen.

Siehe dazu auch Stichworte und einen Artikel von Thomas Schumacher bei der taz.

Wir zitieren aus den nachfolgenden Zeitungen:

Anzeiger für Harlingerland 10.04.2004 (S. 24) Jeversches Wochenblatt 10.04.2004 (S. 24) Ostfriesen-Zeitung 10.04.2004 (3)

Sander setzt auf den "Serengeti-Effekt"

UMWELTSCHUTZ - Landesregierung will Naturtourismus neu ausrichten - Verordnungen auf Prüfstand

Bestimmte Regionen sollen für Touristen leichter zugänglich sein. Die Tiere ließen sich weit weniger stören als bisher angenommen.
VON MARCO SENG, REDAKTION HANNOVER

HANNOVER - Die CDU/FDP-Landesregierung will den Naturschutz einschränken. Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) plant, Nationalparks und Schutzgebiete stärker als bisher für den Tourismus zu öffnen. Pilotregionen sollen das "Biosphärenreservat Elbe", der "Drömling" im Raum Wolfsburg/Gifhorn sowie der Harz werden. "Auf 600 Kilometer Natur erleben, von der Nordsee bis Göttingen, das ist unsere erstes Ziel", erklärte der Minister.

Sander will dafür alle Naturschutzrichtlinien und -verordnungen der vergangenen Jahrzehnte auf den Prüfstand stellen. Nach den Erkenntnissen seines Hauses lassen sich wild lebende Tiere von Menschen weit weniger stören als bisher angenommen. Die Tierbestände hätten sich dramatisch erhöht, das Verhalten vieler Tierarten verändert.

Sander verwies darauf, dass Jahrzehnte lang verschwundene Arten wie Seeadler, Wanderfalke oder Fischotter nach Niedersachsen zurückgekehrt seien. Habicht, Sperber und Mäusebussard brüteten heute sogar in Großstädten. "Die Tiere wissen, dass sie vor den Menschen keine Angst mehr haben müssen."

"Serengeti-Effekt" nennen das die Fachleute im Ministerium. Sander will nun den Bürgern die Chance geben, diesen Effekt zu beobachten. Allerdings nicht im Auto, wie bei den Safaris in Afrika üblich. Auch künftige Naturtouristen dürfen sich den seltenen Tieren und Pflanzen nur auf Schusters Rappen oder per Drahtesel nähern. Dafür sollen gesperrte Wege geöffnet oder neue Straßen gebaut werden.

Sander sieht keine Gefahr für den Naturschutz. Er glaube an das Gute im Menschen. "Wer die Natur kennt, ist bereit, sie zu schützen." Es werde auch weiterhin nicht erlaubt sein, die gekennzeichneten Wege zu verlassen.

Das Umweltministerium will die Entscheidungsträger vor Ort eng einbinden. Bürgermeister und Landräte seien bereits angeschrieben, mit den Naturschutzverbänden werde er reden. Der Umweltschutzverband BUND äußerte sich in einer ersten Reaktion skeptisch über das Vorhaben. Auch aus dem Wirtschaftsministerium soll es dem Vernehmen nach Kritik an Sanders Plänen geben. Schließlich ist Wirtschaftsminister Walter Hirche (FDP) für den Tourismus zuständig. Sander betonte aber, das Projekt sei abgestimmt.

Der Umweltminister kann sich vorstellen, das Konzept "Natur erleben" auf alle Schutzgebiet im Land auszudehnen.

Auch das Watt sowie die Hoch- und Niedermoore seien dafür interessant. In Niedersachsen gibt es 705 Naturschutzgebiete mit einer Fläche von 143.000 Hektar. Das sind etwa drei Prozent der gesamten Landesfläche. Das Pilotprojekt, das 2005 entlang der früheren Zonengrenze starten soll, berührt 70 Gebiete.

Dafür müsse das Land kein zusätzliches Geld ausgeben. Im Etat 2004 sind rund 22,5 Millionen Euro für den Naturschutz eingeplant. "Der Steuerzahler hat ein Recht darauf zu erfahren, welche Wirkung diese Gelder haben."

 
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