von Manfred Knake
In dieser dunklen Jahreszeit denke ich oft an die Tage auf Memmert. Wenn der Sturm ums Haus orgelt, fallen mir die Telefongespräche mit dem einsamsten, aber deswegen nicht unglücklichen Mann in Deutschland ein, der immer besorgt war, dass ihm die Winterstürme “seine” Insel unterm Hintern wegspülten. Reiner Schopf war von 1973 bis 2003 mehr als dreißig Jahre lang Inselvogt und Vogelwart auf der kleinen Insel südwestlich von Juist im ostfriesischen Wattenmeer. Michael Schulte aus Berlin hat über Reiner Schopf ein Büchlein geschrieben: Insel-Liebe, menschenlos glücklich. Books on Demand, ISBN 3-8334-3244-6, 2005
Darin habe ich einen kleinen Beitrag veröffentlich, der aber wegen der Bilder nur verkürzt, ohne die Pointe wiedergegeben wurde. Nachfolgend der komplette Beitrag aus dem Jahr 2004 mit eigenen, bisher unveröffentlichten Bildern. Weitere Fotos, auch die leider schon etwas lädierten Dias, arbeite ich nach und nach ein.
Memmert, das letzte Abenteuer in Deutschland
Memmert war für mich lange „die kleine Unbekannte“ gewesen. Zwar „kannte“ ich als Küstenanwohner die kleine Insel vor Juist aus vielen Veröffentlichungen, aus Berichten des Lehrers und Gründervaters Otto Leege, der vor über hundert Jahren begann, die kleine Sandbank systematisch zu befestigen, um hier See- und Küstenvögel an einem ungestörten Ort anzusiedeln, denn auch damals schon gab es erhebliche Konflikte mit den Einheimischen und „Gästen“, die heute Touristen heißen. Eiersammeln und der Abschuss von Vögeln als Touristenattraktion war damals auf den Inseln nichts Ungewöhnliches. Aber Memmert war für mich völlig „aus der Welt“, nicht zugänglich, weil Naturschutzgebiet und strengste Schutzzone im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Jahrelang hatte ich mich schon in Ostfriesland „als Zugereister“ dem Naturschutz verschrieben und mir dabei überwiegend Feinde gemacht. Wie soll es auch anders sein, wenn man ständig mit Wort und Schrift versucht, gegen die gewaltige Naturzerstörung durch den heutigen Massentourismus, die industrialisierte Landwirtschaft und durch die behördlichen Betonköpfe des Küstenschutzes oder der Entwässerungsverbände anzugehen.
Doch ich fand auch Gleichgesinnte, und das war Reiner Schopf, der seit 1973 auf der Insel Memmert als Vogelwart wohnte, ganzjährig, mit Telefon und später auch mit einem Faxgerät. Und Reiner konnte sich ausdrücken, messerscharf geißelte er die Missstände an der Küste, die auch ich seit Jahren bemerkte. So kam es unausweichlich zu einem ersten telefonischen Kontakt, vielen weiteren Gesprächen und dann zu einer ersten Einladung auf „seine“ Insel, das muss 1990 gewesen sein. Wir trafen uns am Fähranleger der Insel Juist, die einfach von Norddeich aus mit einem Touristendampfer zu erreichen ist. Da stand er, mit altem verschlissenem Parka, wettergegerbtem Gesicht. Er stach aus der Menge der ankommenden outdoorgestylten Inseltouristen heraus. Er schob ein altes Fahrrad, an dem ein verrosteter Anhänger befestigt war und zeigte mir mein Transportmittel zum Westende von Juist, ebenfalls ein altes Fahrrad, das seine besten Tage hinter sich hatte und im wahrsten Sinne des Wortes nach Öl schrie. Mein Gepäck fand auf seinem alten Anhänger Platz, so strampelten wir gegen den Wind die sieben Kilometer an das Westende, zunächst bis zum Dorf „Loog“. Hier kaufte Reiner in einem kleinen Supermarkt noch das nötigste ein, vor allem eine ganze Kiste mit Haferflockentüten. Mit Grausen dachte ich an eventuelle Haferschleim-Frühstücke, die mich möglicherweise auf der Insel erwarteten.
Go west!
Wir fuhren weiter nach Westen, vorbei an der Domäne Bill, in der sich das Ausflugslokal der „Billies“, der inzwischen ständig gewachsenen Familie Ahrends befindet. Am alten, rot geklinkerten Rettungsbootschuppen endete die Reise vorläufig: fertig machen zur Überfahrt nach Memmert. Die Fahrräder wurden eingestellt, wir zogen uns Gummistiefel und Schwimmwesten an. Der eingekaufte Proviant im Anhänger verschwand unter dem noch zusätzlich aufgeladenen Außenbordmotor. Nun wurde es beschwerlich: Der Hänger musste durch den weichen Sand über die Dünen zum Strand gezogen werden. Hier lag sein altes hölzernes norwegisches Ruderboot, klein, sehr klein für die Nordsee. Und das Boot lag hoch im Watt, weit vom Flutsaum; das ablaufende Wasser hatte es dort vor Anker trocken liegen lassen. Da Boote nun mal keine Räder haben, mussten wir es unter gewaltiger körperlicher Anstrengung zum Wasser schleifen, dann wurde das Gepäck vorne verteilt, mit einer alten Plane gegen das Spritzwasser gesichert und der Fahrradhänger als Beschwerung oben drauf verzurrt und schließlich der Außenborder am Boot befestigt.
Die Überfahrt
Ich stieg ein, nahm in der Mitte Platz, Reiner schob das Boot ins Wasser, ich langte nach den Riemen und ruderte es frei; Reiner zog ein paar Mal den Anlasser des Außenborders durch und schon tuckerten wir mit mäßiger Geschwindigkeit Richtung Memmert, das letzte Abenteuer in Deutschland hatte begonnen. Gegen den Wind und gegen den Strom klatschte häufig Wasser ins Boot, jetzt bekam die Nordsee richtig Geschmack. Vorbei an neugierig aus dem Wasser lugenden Seehunden und auffliegenden Eiderenten näherten wir uns Memmert. Schon von weitem wurde fiel die vom Tourismus Unberührtheit der Insel auf: Statt Menschenmassen, Lenkdrachen oder Hunden war der Strand dicht bevölkert von Eiderenten, Kormoranen und Austernfischern; auf den touristisch genutzten Insel sind die Strände bis auf ein paar hartgesottene Silbermöwen vogelleer. Zu Fuß wichen die Tiere dem sich nähernden Boot aus, wir landeten an, der Motor verstummte, wir waren da, aber zunächst nur am von den Wellen festgeklopften Strand.
Zum Wohnhaus auf der höchsten Düne waren es noch einmal zwanzig Minuten zu Fuß, mit dem Gepäck, dem Proviant und dem Außenborder auf dem kleinen Anhänger. Der Weg führte vom Nordwesten der Insel über den festen Sandstrand, längst den hohen Dünenabbrüchen der letzten Sturmflut über einen Dünenweg. Wir liefen weiter auf einer alten Fahrspur, die zahlreiche Versorgungsfahrzeuge vom Unimog bis zum kettengetriebenen Hägglundsgerät, die mit dem Versorgungsschiff angelandet wurden, hinterlassen hatten. Es ging vorbei an warnend auffliegenden eleganten Heringsmöwen und keifenden Austernfischern. Wir störten hier, das war unübersehbar.
Eine neue Welt
Aber ich hatte den Eindruck, in einer realen Inselwelt zu sein, die völlig anders war als die mir bekannten Prospektinseln der Fremdenverkehrsindustrie. Schließlich kletterten wir über einen kleinen Schutzdeich, der das Wohnhaus und den Schuppen umgab, Wildkaninchen flitzten in Deckung unter die Kartoffelrosendickichte. Wir waren zu Hause in einer Reet gedeckten Zivilisationsinsel inmitten einer sonst unbewohnten Düneninsel.
Zentrum des Hauses war das Wohnzimmer, in dem bei meinem ersten Besuch auf der Insel keine Glühlampe hing, damals waren Kerzen in diesem Raum die einzige Lichtquelle. Der runde Holztisch war der Platz für die gemeinsamen Mahlzeiten, die Bücher oder das Fernglas. Der Blick ging hinaus auf den Hausteich vor der Kreuzdüne, die nach dem riesigen Eichenkreuz, das sich oben auf der Düne in den Himmel streckt, benannt ist. Es soll an den früh verstorbenen ersten Inselvogt und Vogelwart auf der Insel erinnern, Otto Leege jr., den Sohn des Norder Lehrers und „Vater des Memmert“, Otto Leege.
Der Hausteich war der Anziehungspunkt für verschiedenen Entenarten, die Stockenten, die scheuen Löffelenten und Teich- und Wasserrallen und die vielen Kleinvögel auf dem Zuge, die hier tranken.
Hier gab es aus der gemütlichen Deckung des Wohnzimmers Einblicke in die Kinderstuben der Enten oder die panische Fluchten, wenn eine Weihe um das Haus gaukelte oder gar mal ein verirrter Seeadler mit riesigen Flügeln über die Insel glitt.
Klare Regeln
Wer nun meint, eine ganze Insel stünde dem Besucher gastfreundlich zur freien Erkundung zur Verfügung, der irrt. Reiner Schopf gab vor jedem kleinen Ausflug genaue Instruktionen, wo man zu gehen oder welche Flächen man zu meiden habe. Ein ganz normaler Spaziergang an den Strand hing immer davon ab, ob Eiderenten, Ringelgänse oder die verschiedenen Watvögel am Strand saßen. War der Strand von Vögeln besetzt, hieß es für die Gattung Mensch umkehren, Rücksicht nehmen. Touristen, die auf den bekannten Ferieninseln Urlaub machen, werden das Schauspiel von tausenden Rastvögeln am Strand nie erleben und könnten daraus fälschlich schließen, die Strände seien für Küstenvögel unattraktiv.
In der Küche war auch alles klar geregelt. Barbara Carp, Reiner Schopfs Lebensgefährtin, hatte nach ihrer Ankunft nach der langen „frauenlosen“ Zeit auf der Insel die „alternative Küche“ eingeführt, das hieß auch, auf Fleisch zu verzichten. Bei meinen ersten Besuchen brachte ich noch Wurst und Schinken als vermeintliche Bereicherung des Speiseplanes mit. Nein, Leichenteile kämen hier nicht auf den Tisch war die klare Ansage im Vogelwärterhaus. Nudeln, Kartoffeln und Salate waren die Hauptgerichte, keinesfalls aber die vielen Haferflocken, die sich in ihren Tüten im Vorratsraum stapelten. Aber das später.
Gewöhnungsbedürftig war zunächst das Trinkwasser. Alle Porzellanteile des Badezimmers und der Toilette waren rostrot überzogen, der hohe Eisenanteil aus der hauseigenen Wasserversorgung aus dem Bohrbrunnen hatte hier jahrelang seine Spuren hinterlassen. Bei späteren Besuchen auf der Insel in heißen Sommern kam es sogar vor, dass Wasser rationiert werden musste; der Hausteich fiel fast trocken und die Wasserpumpe im Pumpenhaus förderte nur spärliches Trinkwasser.
Viel Arbeit
Die Tage auf Memmert vergingen ruhig, aber keinesfalls langweilig. Reiner Schopf war schon oft frühmorgens am Strand, und die gewaltigen Mengen angespülten Schiffsmülls so zu sichern, dass sie nicht zurück ins Meer gespült wurden. Aus Treibholz errichtete er Gestelle, auf denen der Müll festgebunden wurde, bis zu dem Tag, an dem wieder das Versorgungsschiff von Norddeich kam, den Unimog oder das Kettenfahrzeug mit Hänger entlud, um dann den Müll mit Hilfe von einigen Mitarbeitern der Küstenschutzbehörde in Norden zu verladen und auf das Festland zu bringen.
Oder er war mit einem Vorschlaghammer und Nylonnetzen unterwegs, um Sandfangzäune an den abbruchgefährdeten Stellen zu bauen; wie Sisyphos versuchte er, den Sand und die Dünen vor Sturm und Wellen zu schützen, umsonst. Die Strömungsverlagerung in der Außenems war stärker.
Oder die Jahre, wo er mit Schubkarre und Spaten ungewöhnlich viele abgemagerte und verendete Eiderenten einsammelte und in den Dünen vergrub. Ursache waren Parasiten und Nahrungsmangel, immerhin werden immer noch tonnenweise Miesmuscheln aus dem Nationalpark gewerblich abgefischt, Muscheln, die eigentlich die Nahrung von Eiderenten sind.
Und dann die Jahre, in denen die Seehunde an einem Staupevirus starben, Reiner Schopf vermaß und begrub dann jeden gefundenen Kadaver.
Brutvögel, Gäste und andere Mitbewohner
Der Wechsel der Jahreszeiten war intensiv an den ständig wechselnden Vogelarten zu erleben: Im Frühling war die Luft Tag und Nacht voll von den Rufen der Austernfischer, der Rotschenkel, der Großen Brachvögel und der Heringsmöwen; der Sommer brachte die Jungen der Löffler, Kormorane und Eiderenten zusammen mit denen der Austernfischer und Rotschenkel und die ersten Durchzügler wie Regenbrachvögel.
Und im Herbst fielen riesigen Scharen der vielen Watvogelarten auf der Insel ein, zusammen mit den Ringel- und Nonnengänsen. Im Winter kamen viele Kleinvögel auf die Insel, Bergfinken, Schneeammern und Ohrenlerchen, der Kreis schloss sich wieder mit dem Beginn der Brutzeit. Aber auch Bisame und Kaninchen wohnten auf der Insel, wobei es die Kaninchen Reiner Schopf bis hin zu einer Marotte angetan hatten. Die Wildkaninchen im engeren Hausbereich lebten in enger Nachbarschaft mit dem Vogelwart. Einige hatten sogar Namen. Sie kamen morgens und abends zu den verstreut angelegten Futterstellen, um hier Haferflocken zu fressen, die Haferflocken, die er im Loog auf Juist gekauft hatte.
Am 4. August 2003 verließ Reiner Schopf nach mehr als dreißigjähriger Tätigkeit als staatlich angestellter Vogelwart und Inselvogt die Insel Memmert. Ein Versorgungsschiff seiner Dienststelle in Norden hatte das Umzugsgut mitsamt seines Holzbootes von Memmert nach Norddeich transportiert. Mit einem alten Lastwagen wurden Reiner Schopf und Barbara Carp nach ihrem neuen Zuhause in Mecklenburg-Vorpommern gebracht, in die Nähe der Insel Rügen, dort lebt er jetzt inmitten seiner neuen “Insel” auf eigenen elf Hektar Land. Eine Ära war zu Ende.