Fauler Kompromiss: Verdoppelung der Flächen für Kitesurfer im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer

Kitesurfer in der strengsten Schutzzone des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer.- Foto (C): Eilert Voß

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg stellte in einem Beschluss nach einer Klage von zwei Kitesurfern im Dezember 2020 fest, dass Kitebretter als Wasserfahrzeuge zu betrachten seien. Das Befahren der Bundeswasserstraßen mit Wasserfahrzeugen in Naturschutzgebieten und Nationalparken dürfe nach den Vorgaben des Bundeswasserstraßengesetzes nur durch eine Bundes-Rechtsverordnung geregelt werden, für deren Erlass das Bundesministerium für Verkehr zuständig sei. Das hieß, dass das Land Niedersachsen nicht für die Einschränkungen zuständig und die Beschränkungen für Kitesurfer auf bestimmte festgelegte Flächen im Großschutzgebiet Nationalpark aufgehoben war.

Umweltminister Olaf Lies (SPD) bedauerte damals diese Entscheidung und führte in einer Stellungnahme u.a. aus:

Pressemitteilung der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer vom 15. Dez. 2020

Aktuelles zum Kitesurfen im Nationalpark

[…] „Selbstverständlich respektieren wir als Land die obergerichtliche Entscheidung, wir bedauern sie aber. Vor allem, weil dem Bund ein gemeinsamer Novellierungsantrag der Länder Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg vorliegt. Denn klar ist: Vom Kitesurfen geht ein besonderes Störungspotenzial aus, für Fauna und Flora genauso wie für andere Besucher im Nationalpark. Dieses besondere Störungspotenzial haben wir als Land erkannt und darauf im Interesse des Nationalparks mit einer Verbotsregelung reagiert. Dabei wurden als Ausnahmen einzelne Kitesurfzonen zugelassen, wo keine Störungen zu befürchten waren. Dieser Kompromiss zwischen den Interessen des Wassersports und dem Natur- und Artenschutz hat aus unserer Sicht bislang gut funktioniert. Durch das Urteil hat sich aber eine nicht unerhebliche Schutzlücke insbesondere für Brut- und Rastvögel aufgetan, die wir als Land jetzt nicht mehr länger selbst schließen können. Ich vertraue aber darauf, dass der Bund vernünftige Regeln auf den Weg bringt – im Sinne des Natur- und Artenschutzes.“ […]

Was also hat Olaf Lies beim Bundesverkehrsminister unternommen, um eine naturverträgliche Änderung der Befahrensverordnung gegen die Ausweitung des Kitesports („vernünftige Regeln“) nach dem OVG-Beschluss zu erreichen? Was hat  Bundesverkehrsminister Scheuer veranlasst?

Olaf Lies, krasse Fehlbesetzung und Umfaller

Nun, acht Monate später, ist alles anders: „Vernünftige Regeln“ in einer Bundesverordung des Bundsverkehrsministers zur Begrenzung des Kitesports sind nicht erkennbar. Umweltminister Lies ist umgefallen, entgegen aller Vernunft und gegen den Natur- und Artenschutz. Laut dpa vom 19. August 2021 sieht der Umweltminister das nun so: „Umweltminister Olaf Lies erklärte, der Kompromiss zeige, dass Naturschutz und Kitesport vereinbar seien. ´Wir erleichtern den Kitesport an vielen Stellen, unterstützen den Tourismus damit in der Küstenregion – ohne den Natur- und Vogelschutz zu gefährden, sagte der Minister. ´Das war uns sehr wichtig und ist ein echter Erfolg´.“

Der Politiker ist nach Meinung vieler Kritiker als Umweltminister eine krasse Fehlbesetzung. Er ist auch bekannt als politischer Windkraftlobbyist für sein rigoroses Eintreten zur Verdoppelung von Windkraftanlagen, auch auf sensiblen Flächen. Damit soll, so Lies, das Klima „geschützt“ werden. Die Kiter-Nummer läuft als „Kompromiss“ zwischen Kitesurfern des Verbandes Deutscher Wassersportschulen, dem niedersächsischen Umweltministerium und der Nationalparkverwaltung. Es ist ein erkennbar skandalöser und fauler Kompromiss gegen die Zielsetzung des Naturschutzes im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer und Weltnaturerbe. Der Nationalpark ist zudem als europäisches Vogelschutzgebiet nach der rechtsverbindlichen Vogelschutzrichtlinie der EU ausgewiesen. Vor (!) einer Zulassung von Kitespots in Vogelschutzgebieten muss daher eine Verträglichkeitsprüfung nach dem Bundesnaturschutzgesetz erfolgen. Das ist in der Vergangenheit bei der Ausweisung der früheren Kitespots stets unterblieben. Im Klartext: Die Nationalparkverwaltung hat auch hier geltendes Recht ignoriert, so, also ob Naturschutz im Nationalpark im rechtsfreien Raum stattfände.

Der Lack ist ab: Kitesurfer im Nationalpark und „Weltnaturerbe“ – Foto (C): Eilert Voß

Flächen für Kiter mehr als verdoppelt

Die bisherigen bestehenden Flächen der Kitesurfzonen in den zweitstrengsten Schutzzonen (Zwischenzonen) des Nationalparks werden nach Absprachen mit dem Verband Deutscher Wassersportschulen (VDWS) und Tourismusvertretern auf mehr als 3086 Hektar von bisher 17 auf 29 Kitespots verdoppelt. Das enorme Störpotenzial auf Rast- oder Brutvögel im Großschutzgebiet wird durch die beweglichen Zugsegel und die hohe Geschwindigkeit der Kitesurfer drastisch erhöht. Der negative Einfluss der Kitesurfer auf Vogelrast- und Brutgebiete ist naturschutzfachlich hinlänglich untersucht, nicht nur im Nationalpark Wattenmeer. Sogar die Verwendung von Kinderdrachen ist daher in den Schutzzonen (Ruhezonen und Zwischenzonen) des Nationalparks verboten.

Heft 1/2016 „Informationsdienst Naturschutz Niedersachsen“, herausgegeben vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN), „Zum Einfluss von Kitesurfern auf Wasser- und Watvögel – eine Übersicht“.

Unverständlich ist auch, dass die geschmeidige Nationalparkverwaltung als nachgeordnete Behörde des niedersächsischen Umweltministeriums diesen vorgeblichen „Kompromiss“ mitträgt. Sofortige Proteste der großen Naturschutzverbände in Niedersachsen? Fehlanzeige! Laut dpa-Meldung wollen sie „den Entwurf prüfen“. Was gibt es da zu prüfen? Warum wurden die Naturschutzverbände nicht in die Verhandlungen mit eingebunden? Der NABU z.B. lehnte schon 2015 das Kitesurfen außerhalb der Erholungszonen des Nationalparks ab: Kite-Surf-Zonen im Nationalpark

Nur darum geht es:

NDR am 19. Aug. 2021

Wassersportler mit Kompromiss zufrieden

[…] Der Verband Deutscher Wassersport Schulen (VDWS), der mit anderen Verbänden an den Gesprächen teilnahm, begrüßt die Lösung. Im Vergleich zur bisherigen Regelung verbessere sich die Situation für die Wassersportler, sagte der erste Vorsitzende Thomas Weinhardt. Unter anderem entfalle die Befristung von Kitesurf-Zonen, die bislang bis zu fünf Jahre betrug. Unter diesem Aspekt hätte man keine nachhaltige Infrastruktur aufbauen können – weder die Schulen noch der Tourismus hätten damit vernünftig leben können.

Kite- und Windsurfer in Upleward/LK Aurich in der Zwischenzone des Nationalparks Wattenmeer vertreiben Enten von der angrenzenden Schillbank (Ruhezone des Nationalparks, strengste Schutzzone). Der Kitespot wurde zwischenzeitlich aufgehoben, wird aber jetzt wieder zugelassen Foto (C): Eilert Voß

Fragwürdige „Befreiungen“, Rechtsbeugung?

Die ersten Kitesurf-Genehmigungen vor mehr als zehn Jahren wurden von der Nationalparkverwaltung durch „Befreiungen“ nach dem Bundesnaturschutzgesetz erteilt. Befreiungen dürfen aber nur unter den Voraussetzungen der „Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses“ erteilt werden und nur, wenn die Versagung zu einer unzumutbaren Belastung für den Antragsteller führen würde und die Abweichung mit den Belangen von Naturschutz und Landschaftspflege vereinbar ist. Das alles trifft nicht zu. Das „überwiegende öffentliche Interesse“ in einem Nationalpark ist der Naturschutz, nicht das Kitesurfen! Eine „unzumutbare Belastung“ entfällt ebenfalls, da ausreichende unproblematische Wasserflächen außerhalb des Nationalparks für den Kitesport vorhanden sind. Kritiker bezeichneten die Erteilung von „Befreiungen“ daher auch als „Rechtsbeugung“ durch den Nationalparkleiter Peter Südbeck.

Vom Nationalpark zum Freizeitpark

Die Nationalparkverwaltung hat in den letzten Jahren kräftig an der Weiterentwicklung des Nationalparks zum „Freizeitpark Wattenmeer“ mitgearbeitet. Ziel einer neuen Befahrensregelung auf Bundesebene hätte sein müssen, die Kitesurfflächen naturverträglich auf wenige Flächen in den Erholungszonen des Nationalparks zu reduzieren, nicht aber, ihnen zusätzliche große Flächen in den Schutzzonen anzubieten. Das Umweltministerium und die Nationalparkverwaltung stellen damit die Interessen eines Wassersportverbandes und der Tourismusindustrie über die Naturschutzziele in einem Nationalpark. Die Erweiterung der Surf-Flächen ist auch mit einem „Weltnaturerbe“ und einem europäischen Vogelschutzgebiet nicht zu vereinbaren. Der Status „Weltnaturerbe“ sollte nach Auffassung des Wattenrates wegen der vielen zulässigen Nutzungen aberkannt werden. Der Naturschutz in Niedersachsen „hat fertig“, nicht erst seit dem faulen Kiter-Kompromiss!

Aktualisiert am 23. Aug. 2021

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