„Der 4. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat mit Beschluss vom 11. Dezember 2020 der Klage zweier Kitesurfer stattgegeben und antragsgemäß festgestellt, dass die Kläger auch ohne vorherige Befreiung von den Verboten des Niedersächsischen Gesetzes über den Nationalpark ´Niedersächsisches Wattenmeer´ (NWattNPG) im Küstengewässer des Nationalparks kitesurfen dürfen (Az.: 4 LC 291/17)“, schreibt die Pressestelle des Oberverwaltungsgerichtes in Lüneburg am 14. Dez. 2020 (vollständige Pressemitteilung siehe unten). Das Gericht setzt Kitebretter mit Zugsegeln „Wasserfahrzeugen“ gleich:
„Beim Kitesurfen im Küstengewässer des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer´ handele es sich um das Befahren einer Bundeswasserstraße mit einem Wasserfahrzeug. Die Kitesurfausrüstung bestehend aus Board und Lenkdrache sei als einheitliches Wasserfahrzeug anzusehen. Bundeswasserstraßen seien zum Befahren mit Wasserfahrzeugen gewidmet. Das Befahren der Bundeswasserstraßen mit Wasserfahrzeugen in Naturschutzgebieten und Nationalparken dürfe nach den Vorgaben des Bundeswasserstraßengesetzes nur durch eine Bundes-Rechtsverordnung, für deren Erlass das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zuständig sei, eingeschränkt oder untersagt werden.“
Keine Aussage zur Stör- und Scheuchwirkungen auf geschützte Vogelarten
Damit macht das Gericht keine Aussagen zur den festgestellten Stör- und Scheuchwirkungen auf geschützte Vogelarten durch Kiter, die sich rastenden Wat- oder Wasservögeln an Land oder auf dem Wasser mit z.T. sehr hohen Geschwindigkeiten und beweglichen auf und ab pendelnden Zugsegeln nähern. Rastvögel werden schon auf große Entfernungen, je nach Fluchtdistanzen der jeweiligen Arten, vertrieben, ohne dass ein Kiter die Vögel überhaupt wahrgenommen haben muss. Kitesurfer stellen diese Störungen in der Regel in Abrede, sind aber als ornithologische Experten bisher nicht in Erscheinung getreten. In den Onlineforen stellen sie sich gerne als „Naturfreunde“ dar, weil sie bei Wind und Wetter ohne Motorantrieb vom Wind über das Wasser gezogen werden. Als vermeintlichen Beleg der Unbedenklichkeit des Kitesurfens wird oft auf ein Gutachten der dänischen Ingenieur- und Consultingfirma COWI aus 2017 verwiesen. Das Gutachten schließt Störungen durch Kiter nicht aus, relativiert aber Störungen mit anderen Naturnutzer und kommt dann zu dem Schluss, dass auch andere Störreize die Auswirkungen auf Vögel haben.
“ […] Studien über die Auswirkungen des Kitesurfens auf Vögel, wenn Kitesurfen die einzige kontinuierliche Freizeitaktivität ist, werden zwangsläufig zu dem –vorschnellen–Schluss führen, dass Kitesurfer Vögel stören. Die Folge der Durchführung solcher Studien ist, dass Kitesurfen als Grund der Störungen angegeben wird, obwohl es äußerst wahrscheinlich ist, dass jede menschliche Aktivität zur selben Zeit und am selben Ort Vögel stören würde, […]
Die Veröffentlichung von Krüger im „Informationsdienst Naturschutz Niedersachsen, Niedersächsischer Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, Heft 1/2016“: „Zum Einfluss von Kitesurfen auf Wasser- und Watvögel – eine Übersicht“ kommt zu diesen Ergebnissen:
- Losgelöst von Effektdistanzen, artspezifischen und individuellen Empfindlichkeiten wirkt Kitesurfen nicht nur störend auf rastende Vögel, sondern auch auf fliegende/ziehende Vögel. Diese reagieren meist mit Um- oder Überfliegen, bei scheuen Arten vereinzelt auch mit deutlichen Kurswechseln bzw. Zugrichtungsänderungen.
- Kitesurfing führt durch seine Störwirkung zu einer Reduzierung der den Vögeln für die Nahrungssuche zur Verfügung stehenden Fläche und Zeit. An der Küste verschärft sich dieser Effekt zusätzlich dadurch, dass für viele Watvögeln die Nahrungssuche tidebedingt ohnehin nur räumlich und zeitlich begrenzt möglich ist.
- Kommt es in einem Gebiet neben Kitesurfen gleichzeitig zu anderen Störreizen freizeitbedingter Art, summiert sich die Störwirkung und ist dann meist erheblich.
Wie dem auch sei, jedermann kann beobachten, wie panisch bestimme Vogelarten bereits auf mehrere hundert Meter Annäherung auf heranrasende Kitesurfer reagieren, man muss nur hinsehen. Bei Meisterschaften erreichten Kitesurfer schon Geschwindigkeiten von über 100 km/h über Grund, auf diese Geschwindigkeiten können rastende oder mausernde und damit flugunfähige Vögel kaum angemessen schnell reagieren.
Rechtsverordnung müsste im Sinne des Natur- und Artenschutzes geändert werden
Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber durch eine geänderte Rechtsverordnung die Kitebretter mit Zugsegel in Zukunft anders als ein Wasserfahrzeug einordnet und damit den Weg freimacht, um das Kitesurfen im Großschutzgebiet Nationalpark, Natura-2000-Gebiet und „Weltnaturerbe“ neu zu regeln. Die derzeit geltende Befahrensregelung auf Bundeswasserstraßen (auch im Nationalpark) müsste in diesem Sinne naturschutzkonform angepasst werden. Sogar die Verwendung von Kinderdrachen ist in den Ruhe- und Zwischenzonen des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer laut §§ 6 und 12 des Nationalparkgesetzes verboten.
Fragwürdige „Befreiungen“ – oder gar „Rechtsbeugung“?
Die Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven hatte bisher über fragwürdige „Befreiungen“ vom Bundesnaturschutzgesetz (§ 67) das Kitesurfen in ausgewiesenen Bereichen in den zweit strengsten Schutzzonen, den Zwischenzonen (EU-Vogelschutz- und FFH-Gebiet) von Cuxhaven bis Emden zugelassen. Nur steht in § 67 des Bundesnaturschutzgesetzes:
„ Von den Geboten und Verboten dieses Gesetzes, in einer Rechtsverordnung auf Grund des § 57 sowie nach dem Naturschutzrecht der Länder kann auf Antrag Befreiung gewährt werden, wenn
1. dies aus Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer und wirtschaftlicher Art, notwendig ist oder
2. die Durchführung der Vorschriften im Einzelfall zu einer unzumutbaren Belastung führen würde und die Abweichung mit den Belangen von Naturschutz und Landschaftspflege vereinbar ist.“
Beides trifft für Kitesurfer nicht zu. Das „überwiegende öffentliche Interesse“ in einem Nationalpark und Natura-2000-Gebiet ist der Natur- und Artenschutz, nicht die Hobbyausübung einer kleinen und nicht selten aggressiv auftretenden Fun-Sport-Gruppe. Eine „unzumutbare Belastung“ liegt zudem auch nicht vor, da es andere, unproblematischere Wasserflächen gibt, wo der Kitesport ausgeübt werden kann. Kritiker warfen der Nationalparkverwaltung deshalb auch schon „Rechtsbeugung“ für die Tourismusindustrie vor, die sich damit neue Zielgruppen erschließen wollte.
Pressestelle des Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg, 14. Dez. 2020
Kitesurfen im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer unterfällt nicht den Verboten des Gesetzes über den Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“
Der 4. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat mit Beschluss vom 11. Dezember 2020 der Klage zweier Kitesurfer stattgegeben und antragsgemäß festgestellt, dass die Kläger auch ohne vorherige Befreiung von den Verboten des Niedersächsischen Gesetzes über den Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“ (NWattNPG) im Küstengewässer des Nationalparks kitesurfen dürfen (Az.: 4 LC 291/17).
Bislang wurde das Kitesurfen in der Ruhe- und Zwischenzone des Nationalparks „Niedersächsisches Wattenmeer“ von der Nationalparkverwaltung nur in eigens ausgewiesenen Kitesurfzonen und nur in bestimmten Zeitfenstern für zulässig gehalten. Im Übrigen wurde angenommen, dass das Kitesurfen der Vorschrift des § 6 Abs. 2 Nr. 5 NWattNPG unterfällt, die es u.a. verbietet, Drachen, auch vom Fahrzeug aus, in der Ruhezone des Nationalparks „Niedersächsisches Wattenmeer“ fliegen zu lassen. Die Kläger, die das Kitesurfen im Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“ in den Kitesurfzonen hobbymäßig betreiben, wollten dies nicht hinnehmen und auch außerhalb der Kitesurfzonen ganzjährig ihrem Hobby im Küstengewässer des Nationalparks nachgehen.
In erster Instanz hatte eine entsprechende Klage vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg (Az.: 5 A 726/15) keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass das Befahren von Bundeswasserstraßen wie dem Küstengewässer im Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“ zwar nur bundesgesetzlich eingeschränkt werden dürfe. Die landesgesetzliche Vorschrift des § 6 Abs. 2 Nr. 5 NWattNPG stelle jedoch keine Befahrensregelung, sondern ein naturschutzrechtliches Verbot dar, das das Kitesurfen nur reflexartig erfasse, weil es sich nur gegen das mit dem Kitesurfen verbundene Drachenfliegenlassen richte.
Auf die Berufung der Kläger hat der 4. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und festgestellt, dass die Kläger auch ohne vorherige Befreiung von den Verboten des Gesetzes über den Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“ im Küstengewässer des Nationalparks kitesurfen dürfen, da das in § 6 Abs. 2 Nr. 5 NWattNPG enthaltene Verbot Kitesurfen nicht erfasse. Beim Kitesurfen im Küstengewässer des Nationalparks „Niedersächsisches Wattenmeer“ handele es sich um das Befahren einer Bundeswasserstraße mit einem Wasserfahrzeug. Die Kitesurfausrüstung bestehend aus Board und Lenkdrache sei als einheitliches Wasserfahrzeug anzusehen. Bundeswasserstraßen seien zum Befahren mit Wasserfahrzeugen gewidmet. Das Befahren der Bundeswasserstraßen mit Wasserfahrzeugen in Naturschutzgebieten und Nationalparken dürfe nach den Vorgaben des Bundeswasserstraßengesetzes nur durch eine Bundes-Rechtsverordnung, für deren Erlass das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zuständig sei, eingeschränkt oder untersagt werden. Diese „Verordnung über das Befahren der Bundeswasserstraßen in Nationalparken im Bereich der Nordsee“ enthalte jedoch gegenwärtig kein Verbot des Kitesurfens. Der Landesgesetzgeber sei angesichts dieser abschließenden Regelung auf Bundesebene nicht befugt, Befahrensregelungen für Bundeswasserstraßen in Naturschutzgebieten und Nationalparken zu treffen. Die landesrechtliche Vorschrift des § 6 Abs. 2 Nr. 5 NWattNPG müsse entgegen der bisherigen Verwaltungspraxis verfassungs- bzw. bundesrechtskonform so ausgelegt werden, dass sie sich nicht gegen das Befahren des Küstengewässers im Nationalpark mit Wasserfahrzeugen, wozu auch Kitesurfen gehöre, richte. Für ein solches Verständnis spreche insbesondere, dass der Landesgesetzgeber in § 16 Satz 1 Nr. 7 NWattNPG klargestellt habe, dass das Befahren der Bundeswasserstraßen mit Wasserfahrzeugen nach Maßgabe des Bundeswasserstraßenrechts von den Verboten des Gesetzes über den Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“ freigestellt sei.
Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht hat der Senat nicht zugelassen. Das Land Niedersachsen hat jedoch die Möglichkeit, Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision einzulegen.§ 6 Abs. 2 Nr. 5 NWattNPG lautet:
„Zur Vermeidung von Störungen und Gefährdungen der Schutzgüter des Nationalparks ist es verboten, […]
5. Drachen, auch vom Fahrzeug aus, Modellflugzeuge oder andere Kleinflugkörper fliegen zu lassen, Ballons zu starten oder außerhalb der Wege fernlenkbare Geräte zu betreiben,
soweit solche Handlungen nicht durch dieses Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes zugelassen sind.“