Die Grünen im Niedersächsischen Landtag haben im März 2020 eine Kleine Anfrage mit der Frage „Europäisches Schutzgebietsnetz in Niedersachsen: Jetzt, da Strafzahlungen drohen – wie kommt die Umsetzung von Natura 2000 voran?“ eingebracht, die am 05. Mai 2020 im Auftrag der Landeregierung vom Umweltministerium beantwortet wurde. Zu den Natura-2000-Richtlinien gehören die europäische Flora-Fauna-Habitatrichtlinie und die Vogelschutzrichtlinie, ein verbindliches Regelwerk für alle EU-Mitgliedstaaten, englisch „Directives“, also „Anweisungen“. Bei genauer Betrachtungsweise ist die Durchsetzung der Verpflichtungen aus der Flora-Fauna-Habitatrichtlinie aus dem Jahr 1992 in Deutschland ein Schmierentheater seit Anbeginn.
Die Deutschen ließen sich viel Zeit, ihre schwachen Naturschutzgesetze an die strengeren Vorgaben der FFH-Richtlinie anzugleichen. Die Deutschen passten ihre Gesetze erst an, nachdem der Europäische Gerichtshof Deutschland dazu verurteilt hatte. Ohne Verurteilung geht in Deutschland fast nichts auf dem Gebiet des gemeinschaftsrechtlichen Naturschutzes. Mehr als zögerlich war auch die Meldung der europäischen Vogelschutz- und FFH-Gebiete, also der Naturschutzgebiete von Gemeinschaftsrang. Der Meldevorgang zog sich über Jahre bin. Mehrfach musste die Europäische Kommission Deutschland mahnen und Beschwerdeverfahren androhen. Freiwillig wollten die Deutschen viel weniger Gebiete in das europäische Schutzgebietssystem Natura 2000 einbringen, als die EU erlaubt.
Täuschen und tricksen
Die Dinge zogen sich über mehr als ein Jahrzehnt des Täuschens und Tricksens hin. Es war eine Hochzeit der Lobbyisten aus Politik, Wirtschaft und Kommunen, die den Aufbau den Netzes boykottierten und blockierten. Schon 2004 hatte das Schutzgebietsnetz vollendet sein sollen, um den dramatischen Rückgang natürlicher Lebensräume und Arten aufzuhalten. Doch der deutsche Anteil am Netz ist heute, 16 Jahre später, immer noch eine Baustelle. Und deshalb ist fast die Hälfte der Lebensraumtypen und ein Drittel der Arten, die gemeinschaftsrechtlich in Deutschland zu schützen sind, in einem unzureichenden oder schlechten Erhaltungszustand, wie die Bundesregierung kürzlich bekanntgegeben hat.
Unzureichende Sicherung der Schutzgebiete
Niedersachsen macht in diesem Debakel keine bessere Figur als die übrigen 15 Bundesländer, eher eine schlechtere. Das geht – wenngleich unausgesprochen – aus der Antwort der Landesregierung auf die oben erwähnte Kleine Anfrage der Grünen im niedersächsischen Landtag hervor. Bisher sind von den 385 FFH-Gebieten nur 297 und von den 71 EU-Vogelschutzgebieten nur 17 vollflächig gesichert. Wegen der unzureichenden Sicherung der FFH-Gebiete hat die EU-Kommission bereits 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet und dieses zuletzt im Februar 2020 verschärft. Pessimisten rechnen mit einer Verurteilung Deutschlands vor dem Europäischen Gerichtshof, nicht zuletzt wegen der Versäumnisse Niedersachsens.
Der Fluch der bösen Tat – mit desaströsen Auswirkungen
Die Lage in Niedersachsen ist Fluch der bösen Tat: Das Land Niedersachsen hatte sich auf Betreiben der damaligen Landesregierung von CDU und FDP unter Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) der Verantwortung für den Schutz der Natura-2000-Gebiete entledigt und – ein einmaliger Vorgang in Deutschland – nach der Auflösung der Bezirksregierungen 2005 den Schutz dieser Gebiete den Landkreisen und kreisfreien Städten, also dem lokalen Politklüngel, zu dem auch Politiker der Grünen gehören, übertragen. Die Landkreise hatten die Aufgabe freudig übernommen mit der Zusage, „sie wollten und sie könnten das“. Die Auswirkungen sind desaströs. Die Landesregierung hatte sie ermutigt und die EU-Verpflichtungen leichtfertig zum Kinderspiel erklärt.
Heinrich, mir graut´s vor Dir!
Der berüchtigte frühere FDP-Umweltminister Hans-Heinrich Sander hatte zwei Legislaturperioden lang die Mähr verbreitet, man müsse für den Schutz dieser Gebiete eigentlich gar nichts tun. Vor allem ordnungsrechtlich bedürfe es keiner Einschränkungen der Landnutzung. Die Grundeigentümer könnten freiwillige Verträge abschließen und für Einschränkungen kassieren. Der Deal platzte. Die Suppe auslöffeln mussten die nachfolgendem Landesregierungen, die allerdings an der fatalen Rechtslage der kommunalen Zuständigkeit nicht rühren wollten – und am Schluss trifft es vermutlich den Steuerzahler. Im Falle einer Verurteilung könnten für Deutschland Strafzahlungen in Millionenhöhe fällig werden – pro Tag. Bereits 2015 versuchten die Deutschen die Versäumnisse zu entschuldigen: Man habe so viele Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt muss vermutlich die Corona-Pandemie herhalten.
Naturschutz im kommunalen Klüngel
Ganz gleich wie das derzeitige Vertragsverletzungsverfahren ausgeht: Die deutschen Versäumnisse auf dem Gebiet des gemeinschaftlichen Naturschutzes bieten Stoff für weitere Verfahren. Denn nicht wenige Schutzgebietsverordnungen, die von den oft ahnungslosen, desinteressierten oder ignoranten Kommunalpolitikern niedersächsischer Landkreise beschlossen wurden, dürften fehlerhaft und unzureichend sein. Brüssel ist eben weit, weiter als der Mond, und den kann man immerhin sehen.
Die Kleine Anfrage mit der Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz namens der Landesregierung vom 05.05.2020 können Sie hier als PDF-Datei aufrufen: Kleine Anfrage_Gruene_Natura-2000