Gänsevergrämen im EU-Vogelschutzgebiet – Staatsanwaltschaft Aurich stellt Ermittlungsverfahren ein

Hof der Anzeigenerstatterin in Ostbense, Gem. Neuharlingersiel/LK Wittmund im EU-Vogelschutzgebiet V63 „Ostfriesische Seemarschen von Norden bis Esens“ – Foto: Ina Nowinski

Bearbeitet und ergänzt am 05. März 2025

Wie es in einem Vogelschutzgebiet an der ostfriesischen Küste im Landkreis Wittmund tatsächlich aussieht, wird nachfolgend berichtet: Die Besitzerin eines Hofes vermietet Ferienwohnungen in Ostbense in der Gemeinde Neuharlingersiel/Samtgemeinde Esens direkt hinter dem Deich. Ihr Anwesen liegt mitten im Vogelschutzgebiet V63 „Ostfriesische Seemarschen von Norden bis Esens“, das bekannt ist für seine herausragende Bedeutung für Gast- und Brutvögel. So beschreibt der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten und Naturschutz (NLWKN) als Fachbehörde dieses Gebiet:

[…] Durch die Nähe zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer sind die Marschflächen für zahlreiche Wat- und Wasservögel von zentraler Bedeutung. Sie dienen als Nahrungsraum oder Hochwasserrastplatz, wenn die nahe gelegenen, nahrungsreichen Wattflächen während des Tide-Hochwassers überspült sind. Wertbestimmende Rast- und Nahrungsgäste für das Vogelschutzgebiet sind Goldregenpfeifer, Brachvogel und Weißwangengans sowie Lach- und Sturmmöwe. Die störungsarme Landschaft der ostfriesischen Seemarsch ist für die Zug- und Gastvögel wichtig, um z. B. Nahrungsreserven für den Zug in die Brutgebiete anzulegen. Die mit Altschilf bestandenen Gräben bieten geeignete Bedingungen für Röhricht bewohnende Arten wie Blaukehlchen und Schilfrohrsänger. Beide Arten erreichen im Gebiet einen der höchsten Brutbestände innerhalb der niedersächsischen Vogelschutzgebiete. Auch für die in Niedersachsen vom Aussterben bedrohte Wiesenweihe ist die Marsch ein wichtiges Brut- und Nahrungsgebiet. Ursprünglich brütete die Art ihrem Namen entsprechend in den selten gewordenen Wiesen der feuchten Niederungen. Inzwischen werden die Nester zunehmend, wie hier im Vogelschutzgebiet, gut versteckt am Boden in Getreidefeldern angelegt. […]“

Äsende Nonnengänse auf Grünland im Vogelschutzgebiet, im Hintergrund die Esenser Kirche – Foto: Ina Nowinski

Schreckschüsse und Böller gegen Gänse mit einer widersprüchlichen Schutzverordnung

Dieses Gebiet wird ebenfalls intensiv landwirtschaftlich genutzt – und damit beginnen die Probleme. Zwei Bauern, die in der Nähe des Ferienhofes wohnen, vertreiben regelmäßig die rastenden Gänse mit Schreckschusswaffen oder Böllern, sehr zum Ärger der Hofbesitzerin, ihren zahlenden Gäste und zum Schrecken ihrer Pferde. Dieser Streit schwelt seit Jahren. Die Bauern fühlen sich im Recht. Grund ist die Landschaftsschutzverordnung des Landkreises Wittmund vom 30. Sept. 2010 (LSG WTM 25 „Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden und Esens“), mit der das Vogelschutzgebiet in nationales Recht überführt wurde. Die Verordnung wurde vom Kreistag des Landkreises Wittmund im Sinne der Landwirtschaft, nicht des Artenschutzes, verabschiedet. Naturschutzfachleute sind rar in den politischen Gremien, der lokale politische Klüngel entscheidet über die Verordnungsinhalte. Die Bauern machen Fraßschäden durch die überwinternden arktischen Gänse gelten, überwiegend Nonnengänse.

Jagender Turmfalke im Vogelschutzgebiet – Foto: Ina Nowinski

So heißt es unter „Erhaltungsziele“ der Landschaftsschutzverordnung:

unter „Verboten“:

unter „Freistellungen“:

Wie man lesen kann, ist die Landschaftsschutzverordnung in sich widersprüchlich. Sie verbietet die Störungen, erlaubt es aber den Bauern, nach knapper vorhergehender oder nachträglicher Mitteilung an den Landkreis, beliebig Gänse zu vertreiben, weil diese angeblich Fraßschäden verursachten, ein Freibrief.  Nur werden Fraßschäden durch Beauftragte der Landwirtschaftskammern festgestellt, und damit auch die Höhe etwaiger Entschädigungszahlungen, und nicht nach kurzem Augenschein. Zudem werden durch die Vergrämungen mittels Schreckschuss oder Böller auch streng geschützte Vogelarten von ihren Rast- oder Brutflächen vertrieben.

Sturmmöwen im Schutzgebiet – Foto: Ina Nowinski

Zu den streng geschützten Arten gehören u.a. Große Brachvögel oder Goldregenpfeifer, die als Rastvögel von ungeübten Beobachtern nur schwer auf dunklem Ackerbogen auszumachen sind.

Jagende Rohrweihe im Schutzgebiet – Foto: Ina Nowinski

Nach § 71 des Bundesnaturschutzgesetzes in Verbindung mit § 69 kann mit bis zu fünf Jahren Haft oder Geldbuße bestraft werden, wer Tiere der streng geschützten Arten vorsätzlich (!) stört.

Anzeige bei der Staatsanwaltschaft

Die Besitzerin des Ferienhofes zeigte schließlich entnervt die schreckschießenden Bauern bei der Staatsanwaltschaft Aurich an, die das Verfahren dann mit Bescheid vom 02. Januar 2025 nach zwei Jahren einstellte. Die Staatsanwältin berief sich darin auf die Darstellung des Landkreises Wittmund als Untere Naturschutzbehörde. Der Bescheid zum Einstellungsverfahren ist hier nachzulesen, die Namen der Beteiligten sind geschwärzt. 

Eingesetzte Leuchtrakete zur Vergrämung – Foto: Ina Nowinski

Inzwischen, so die Beschwerdeführerin, „knallt man wieder bis zu dreimal am Tag“. Während des Ermittlungsverfahrens sei ein Laser benutzt worden.

Künstlicher Greifvogel an einer Stange zum Vertreiben von Rastvögeln aus dem Schutzgebiet – Foto: Ina Nowinski

Stellungnahme des Wattenrates – keine Reaktionen

Die Stellungnahme des Wattenrats dazu ging u.a. an das Niedersächsische Umweltministerium, in Kopie an einige „große“ Naturschutzverbände, die Generalstaatsanwaltschaft in Oldenburg und die Medien, Reaktionen: keine. Es gab noch nicht einmal eine Eingangsbestätigung, um die gebeten wurde:

Manfred Knake
im Wattenrat Ostfriesland                03. Febr. 2025
Brandshoff 41
26427 Holtgast

nur per Mail, mit der Bitte um Eingangsbestätigung

An das Niedersächsische Ministerium Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz
Archivstraße

 Hannover

Vogelschutzgebiet V63 „Ostfriesische Seemarschen von Norden bis Esens“
hier : Einstellung eines Strafverfahrens wegen der Vergrämung von Vögeln durch Landwirte

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Anhang übersende ich die bemerkenswerte Einstellung eines Strafverfahrens der Staatsanwaltschaft Aurich (Erste Staatsanwältin Höving) gegen einen Landwirt in der Gemeinde Neuharlingersiel/SG Esens im LK Wittmund. Anzeigenrerstatterin war eine Anwohnerin aus der Gemeinde Neuharlingersiel, die sich u.a. gegen die Vergrämung von wildlebenden Vögeln im Vogelschutzgebiet V63, „Ostfriesische Seemarschen von Norden bis Esens“ wandte.

Nach §71 Abs. 1 Nr.1 des Bundesnaturschutzgesetzes in Verbindung mit § 69 Abs. 2 Nr. 2 und §44 Abs. 1 Nr.2 BNatSchG stellt die erhebliche Störung von streng geschützten Arten eine Straftat dar, die mit Freiheitsstrafen geahndet werden kann. Das Verfahren gegen Landwirte, die häufig mit Schreckschusswaffen oder Laserlicht äsende Gänse im Schutzgebiet von ihren Flächen vertreiben, wurde mit Schreiben der Staatsanwaltschaft Aurich vom 02. Jan. 2025 eingestellt. Begründung: Die LSG-Verordnung sehe nach § 4 Abs. 2 Nr. 8 eine Freistellung für die zeitliche befristete Vergrämung von Vögeln auf Ackerflächen und Grünlandneuansaatflächen vor. Beginn und Ende der Vergrämungsmaßnahmen seien der Naturschutzbehörde anzuzeigen, und zwar von Bauern selbst, der „die Vergrämung der dort rastenden Gänse mittels Schreckschusswaffen nach Bedarf durchführen würde.“

Die Landschaftsschutzverordnung des LK Wittmund führt  in § 3 unter „Verbote“ aus „13. wild lebende Tiere oder die Ruhe der Natur durch Lärm oder auf andere Weise zu stören; die Störungen dürfen insbesondere nicht die in § 2 Abs. 4 genannten Vogelarten vergrämen oder belästigen.“ Die Bauern machen Ertragseinbußen geltend. „Die Vergrämungsmaßnahmen würden am selben Tag bzw. spätestens am Folgetag gegenüber dem Landkreis Wittmund durch die Beschuldigten angezeigt werden“.

  Zu den „genannten Vogelarten“:
§ 2 der LSG-Verordnung führt aus: „Schutzgegenstand und Schutzzweck
(4) Schutzzweck ist die Erhaltung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes für die im Anhang I (Artikel 4 Absatz 1) der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 aufgeführten, im Gebiet vorkommenden Arten, insbesondere der für das Vogelschutzgebiet wertbestimmenden Arten
  • Weißsterniges Blaukehlchen (Luscinia svecica speculando),
• Wiesenweihe (Circus pygargus),
• Goldregenpfeifer (Pluvialis apricaria),
• Weißwangengans (Branta leucopsis)“

Der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) führt zu diesem Gebiet u.a. aus: „Das Gebiet stellt sich als großflächig offener, weitgehend störungsarmer Raum dar und ist einer der landesweit wichtigsten Brutplätze für Wiesenweihe, Schilfrohrsänger und Blaukehlchen. Es hat im Zusammenhang mit den Flächen des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer eine zentrale Bedeutung als Gast- und Rastvogellebensraum für Weißwangengans, Goldregenpfeifer, Großen Brachvogel sowie Lach- und Sturmmöwe.“ https://www.nlwkn.niedersachsen.de/natura2000/schutzgebiete_zur_umsetzung_von_natura_2000/landschaftsschutzgebiet-ostfriesische-seemarsch-zwischen-norden-und-esens-im-bereich-des-landkreises-wittmund-109779.html

Dem Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Aurich ist zu entgegnen:
1.) Mit der „Freistelllung“ nach § 4 der LSG-Verordnung mit dem Passus „befristete Vergrämung“ wird das Schutzziel in diesem europäischen Vogelschutzgebiet für Bauern beliebig außer Kraft gesetzt, diese Freistellung ist ein Freibrief zum Vergrämen von Vögeln aller dort vorkommenden Arten.
2.) Wer begutachtet und bewertet die Höhe der vorgeblichen „Ertragseinbußen“ durch die Gänse? Schadensermittlungen werden in der Regel von Mitarbeitern der Landwirtschaftskammer und nicht vom Bauern „nach Bedarf“ durchgeführt.
3.) Es rasten im Vogelschutzgebiet V63 nicht nur arktische Gänse („besonders geschützte Arten“), sondern auch „streng geschützte Arten“ wie u.a. Goldregenpfeifer als „wertbestimmende Art“ (!) und Große Brachvögel. Diese werden durch die häufige Verwendung von Schreckschusswaffen oder Lasern ebenfalls vertrieben, da diese Vergrämung nicht selektiv nur auf Gänse wirken kann. Das wäre dann eine Straftat. Diesen Sachverhalt ignoriert nicht nur der Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Aurich, sondern auch die zuständige Untere Naturschutzbehörde des Landkreises Wittmund!  Offenbar werden die tatsächlichen naturschutzfachlichen Grundlagen in diesem europäischen Vogelschutzgebiet, hier der Schutz der Rastvogelvorkommen auch von „wertbestimmenden Arten“, im Sinne der landwirtschaftlichen Nutzung ausgeblendet.

Es ist offensichtlich, dass die zugrundeliegende Landschaftsschutzverordnung im Vogelschutzgebiet V63 rechtsfehlerhaft und interessengeleitet im Sinne der Landwirtschaft vom Landkreis nach Abstimmung durch die  Kreistagsmitglieder verabschiedet wurde – und entsprechend korrigiert werden müsste.
Ich bitte darauf hinzuwirken, dass die genannte Landschaftsschutzverordnung im Sinne des Schutzes der werbestimmenden Arten korrigiert wird.

Zu ergänzen ist, dass ebenfalls im Vogelschutzgebiet V63 auf der Fläche der Gemeinde Neuharlingersiel im Frühjahr 2024 die „Europameisterschaften der Friesensportler“ stattfand (https://www.wattenrat.de/2024/07/07/europameisterschaften-der-friesensportler-im-mai-2024-eine-nachlese/), in unmittelbarer Nähe der Graben- und Schilfgebiete, in denen eigentlich die wertbestimmenden Arten Blaukehlchen und Schilfrohrsänger brüten sollen. Das Vogelschutzgebiet V63, in dem eine Umgehungsstraße rechtswidrig um den Ort Bensersiel/Stadt Esens geplant und gebaut wurde (damals noch „faktisches Vogelschutzgebiet“, mit der Vernichtung von mehr als einem Kilometer Schilfgürtel https://www.wattenrat.de/2021/03/20/schwarzbau-umgehung-bensersiel-im-vogelschutzgebiet-freigegeben-jetzt-rechtssicher/ ), in dem eine sportliche Großveranstaltung stattfand und in dem Bauern nach Gutdünken Vögel vertreiben dürfen, bietet den betroffenen Vogelarten mit Billigung von Behörden nur Schutz auf dem Papier.

Freundliche Grüße
Manfred Knake

(Anhang .pdf)

Diese Schreiben wird auf der WebSeite des Wattenrates Ostfriesland www.wattenrat.de
veröffentlicht.

Vergrämung wirkt nicht selektiv auf Gänse

Der Staatsanwaltschaft in Aurich sind offensichtlich die Widersprüche der umstrittenen Landschaftsschutzverordnung und die Tatsache, dass auch streng geschützte Vogelarten durch die Vergrämung betroffen sind, keine Zeile wert gewesen. Die Vergrämung erfolgt zweifellos nicht selektiv nur für Gänse.

Der Wattenrat hatte wiederholt öffentlich gefordert, Zentralstellen für Umweltdelikte bei den Staatsanwaltschaften mit entsprechend naturschutzfachlich geschulten Juristen einzurichten.

Viele fehlerhafte Landschaftsschutzverordnungen

Zudem ist es in den Landesumweltministerien bekannt, dass viele Schutzverordnungen fehlerhaft sind und diese zu viele Ausnahmen erlauben. Vor dem Europäischen Gerichtshof hätten viele Verordnungen, die europäische Vogelschutzgebiete in nationales Recht übertragen haben, keinen Bestand. Es wäre Aufgabe der „anerkannten“ Naturschutzverbände mit ihren hauptamtlichen Mitarbeitern, diese Verordnungen bundesweit akribisch auf die Widersprüche mit den Freistellungen zu untersuchen und an die EU-Kommission weiterzuleiten. Vorher bewegt sich nichts im Land. Der „Schutz“ in vielen EU-Schutzgebieten steht daher nur auf dem Papier, und das ist bekanntlich geduldig.

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